Interview des Vorstandsvorsitzenden der PAO Gazprom, Alexey Miller, zu Ergebnissen der Jahreshauptversammlung
- Herr Miller, heute wurden die Ergebnisse der Jahreshauptversammlung der Gazprom zusammengefasst. Nennen Sie bitte die Ihrer Ansicht nach fünf bedeutendsten Ereignisse im vergangenen Jahr.
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Das Jahr war für Gazprom außerordentlich ereignisreich. Wenn man versucht, nur fünf wichtige Ereignisse hervorzuheben, so muss man natürlich mit der Entwicklung der Ressourcenbasis beginnen. Das bedeutet eine Aufstockung von Kapazitäten im landesweit maßgeblichen neuen Gasförderungszentrum auf der Halbinsel Jamal. Im Jahr 2019 haben wir nach der Bowanenkowskoje mit der Erschließung der Lagerstätte Charassaweiskoje begonnen. Sie liegt weiter nördlich und gilt von ihren Vorräten her als einzigartig.
Zum zweiten ist der Verlauf der Herbst- und Wintersaison zu erwähnen. Wir haben sie wie immer selbstbewusst gemeistert, was zu einem großen Teil auf Untertagespeicher zurückzuführen ist. Im Jahr 2019 haben sie eine historische Rekordleistung von 843,3 Millionen Kubikmetern täglich erreicht. Dadurch ist die Gasversorgung in der Winterzeit noch zuverlässiger geworden.
Zum dritten sind es zweifellos Projekte an ausländischen Märkten. Unser Exportpotenzial hat zugelegt. Zwei neue Exportkorridore – die TurkStream und die Power of Siberia – sind gleichzeitig entstanden. Das bedeutet eine noch größere Zuverlässigkeit von Lieferungen in westlicher Richtung und die Umsetzung langfristiger strategischer Vereinbarungen mit China im Osten.
Zum vierten sind es russische Projekte im Bereich der Erdgasverarbeitung. Sie haben gegenwärtig für Gazprom immens an Bedeutung gewonnen. Im vergangenen Jahr haben wir beim Bau des Gasverarbeitungswerkes Amur den halben Weg bewältigt und ein Projekt in Ust-Luga gestartet. Beide Betriebe werden zu den weltweit leistungsstärksten gehören. Ich möchte die erfolgreiche Beschaffung der Projektfinanzierung von 11,4 Milliarden Euro für das Gasverarbeitungswerk Amur besonders hervorheben. Es ist die größte Finanzierung in der Gazprom-Geschichte.
Der fünfte Punkt, mit dem man die Antwort auf Ihre Frage wohl abschließen kann, sind die Finanzen. Gazprom arbeitet selbstbewusst. Unser Sicherheitsfaktor ist hoch, was an den Dividenden deutlich zu erkennen ist. Wir werden 360,8 Milliarden Rubel auszahlen. Trotz der diffizilen Situation, in der sich die gesamte Weltwirtschaft und der Energiesektor derzeit befinden, kommt das praktisch dem Rekordstand vom Vorjahr gleich.
- Hat sich diese diffizile Situation auf die Projekte des Konzerns irgendwie ausgewirkt? Wie sehen derzeit die aktuellen Pläne aus, woran arbeitet Gazprom?
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Gazprom hat eine klare Zielsetzung. Dazu gehört zum Beispiel die jährliche Regenerierung der Ressourcenbasis. Der Wachstumsfaktor von Vorräten aufgrund von Prospektionsarbeiten liegt stabil über der Eins. So ist es seit 15 Jahren und so wird es laut Jahresergebnissen 2020 bleiben. Der größte Zuwachs wird auf die Halbinsel Jamal entfallen. In diesem Jahr haben wir dort bereits eine weitere große Lagerstätte entdeckt, der wir den Namen „75 Jahre des Sieges“ gegeben haben.
Gazprom übt die größten Investitionsaktivitäten auf der Halbinsel Jamal und im Osten aus. Auf der Halbinsel Jamal setzen wir den Aufschluss der Lagerstätte Charassaweiskoje fort: Im Juni haben wir, wie geplant, mit der Niederbringung von Förderbohrungen begonnen. Vor einigen Tagen haben wir Bauarbeiten an einer komplexen Gasaufbereitungsanlage gestartet. Wir haben den fünften Abschnitt der Anschlusspipeline bis zur Lagerstätte Bowanenkowskoje verschweißt und verlegt. Das erste Gas wird bereits 2023 ins Einheitliche Gasversorgungssystem fließen.
Der Terminkalender für die Lagerstätte Kowyktinskoje im Verwaltungsgebiet Irkutsk ist sehr eng. Bohrungen werden weiterhin angelegt. In diesem Jahr beginnen wir mit dem Bau der ersten komplexen Gasaufbereitungsanlage und des Abschnittes der Power of Siberia zwischen den Lagerstätten Kowyktinskoje und Tschajandinskoje.
Am Gasförderungszentrum Sachalin wird weiterhin aktiv gearbeitet: In der Lagerstätte Kirinskoje werden in diesem Jahr zwei Bohrlöcher angeschlossen.
Dabei weiten wir nicht nur geographisch unsere Präsenz aus. Es verändert sich auch die Zusammensetzung von gefördertem Gas. Der Anteil von ethanhaltigem Mehrkomponentengas wird immer größer. Das trifft sowohl auf die neuen Lagerstätten Tschajandinskoje und Kowyktinskoje im Osten als auch auf tiefer gelegene Formationen in der westsibirischen Region Nadym-Pur-Tas zu.
Aus diesem objektiven Grund haben wir uns verstärkt mit der Verarbeitung befasst. Wir bauen im Osten das Gasverarbeitungswerk Amur und im Westen den Industriekomplex Ust-Luga. Diese beiden Betriebe werden zu den weltweit leistungsstärksten gehören. Außerdem wird das Gasverarbeitungswerk Amur zum Spitzenreiter in der Helium-Produktion, und der Industriekomplex in Ust-Luga wird zum größten Betrieb in Nordwesteuropa hinsichtlich der produzierten Mengen von verflüssigtem Erdgas. Selbstverständlich bedeutet die Verarbeitung auch Mehrwertschöpfung und folglich einen erheblichen zusätzlichen Cashflow.
Was unsere Tätigkeit auf dem europäischen Markt anbelangt, so versorgen wir unsere Verbraucher weiterhin zuverlässig mit Gas. Wir sind dort nach wie vor der größte Exporteur. Heute erlebt der Gasmarkt nicht gerade seine besten Zeiten. Alle seine Teilnehmer haben Schwierigkeiten, aber wir verfügen über einen höheren Sicherheitsfaktor. Gazprom hat eine Reihe wesentlicher Vorteile. Dazu gehören eine umfangreiche Ressourcenbasis, ein ausgeglichenes Handelsportfolio, flexible Lieferbedingungen und zeitgerechte Handelsinstrumente. Deshalb bauen wir selbst in diesen Zeiten unsere Zusammenarbeit aus: Wir haben unlängst einen neuen langfristigen Vertrag zu Gaslieferungen nach Griechenland abgeschlossen.
Wenn man auf die finanzielle Lage zu sprechen kommt, so hält Gazprom ein hohes Maß an Stabilität und Zuverlässigkeit aufrecht. Zu Jahresbeginn verfügten wir über erhebliche Liquiditätsvorräte: über 22 Milliarden US-Dollar in der gesamten Unternehmensgruppe. Investoren bringen uns großes Vertrauen entgegen: Wir haben seit Jahresbeginn zwei Schuldverschreibungen in US-Dollar und Euro und zwei Schuldverschreibungen in Rubeln zu sehr günstigen Konditionen ausgegeben. Am Montag wird eine weitere Transaktion in US-Dollar abgeschlossen.
Die drei größten internationalen Agenturen – S&P, Moody's und Fitch – haben die langfristigen Bonitätsratings der Gazprom auf unverändertem Niveau bestätigt. Während viele ausländische Öl- und Gasgesellschaften mindestens von einer dieser Agenturen im Rating herabgestuft worden sind bzw. mit schlechteren Aussichten abgeschnitten sind.
Übrigens hat die Nachfrage nach Gas nicht an allen ausländischen Märkten nachgelassen. China zum Beispiel fährt sowohl den Gasverbrauch als auch Importe weiterhin hoch.
- Wie schätzen Sie insgesamt das Potenzial für die Zusammenarbeit zwischen Gazprom und China ein?
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Sehr hoch. Der Bedarf an Gas wird in China schnell zunehmen. Laut Ergebnissen des Vorjahres stieg der Gasverbrauch in der VR China um knapp zehn Prozent und lag bei mehr als 300 Milliarden Kubikmetern. In 15 Jahren kann sich die Nachfrage nach Gas in diesem Land verdoppeln.
Gazprom liefert heute Gas durch die Pipeline Power of Siberia nach China. Innerhalb von wenigen Jahren werden wir seine Liefermengen auf 38 Milliarden Kubikmeter aufstocken. Zunehmende Lieferungen durch die Power of Siberia werden die Dynamik sowohl der Importe von verflüssigtem Erdgas als auch der Gaslieferungen aus Zentralasien nach China übertreffen.
Indessen liegen auf unserem Verhandlungstisch mit den chinesischen Partnern Projekte zur Steigerung von Gaslieferungen durch die Pipeline Power of Siberia um sechs Milliarden Kubikmeter auf 44 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr, zu Gaslieferungen aus dem Fernen Osten sowie zum Bau der Power of Siberia 2 und der Westroute. All dies ermöglicht es uns, darüber zu sprechen, dass die Exporte von Pipelinegas nach China in absehbarer Zeit einen Umfang von mehr als 130 Milliarden Kubikmetern erreichen werden. Dies ist mit unseren aktuellen Lieferungen auf herkömmliche Märkte vergleichbar.
- Der Ausbau der Erdgasinfrastruktur in russischen Regionen: Was hat Vorrang auf dieser Agenda?
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Es ist natürlich der Auftrag des russischen Präsidenten in Bezug auf Programme der Gasversorgung und des Ausbaus der Erdgasinfrastruktur in russischen Regionen. Uns wurden absolut klare zeitliche Rahmen für die einzelnen Phasen gesetzt: die Jahre 2024 und 2030.