Rede von Alexey Miller bei der Plenartagung zum Thema „Gasmarkt 2024: Konturen einer neuen Weltordnung“ im Rahmen des Petersburger Internationalen Gasforums 2024
Stenogramm
Moderatorin: Herr Miller, wie bewerten Sie heute den Zustand des europäischen Marktes nach der radikalen Verringerung von Gaslieferungen aus Russland?
Alexey Miller: Schlimm.
Das, was sich auf dem europäischen Gasmarkt aktuell abspielt, hat bereits eine feste Definition erhalten: Dies ist eine künstliche Zerstörung der Nachfrage nach Gas. Es gibt aber auch härtere Bewertungen und Meinungen von Experten. Einige behaupten, dass man dies als „Energie-Selbstmord“ Europas bezeichnen könne. Andere Experte sprechen davon, dass sich die „Wirtschaftslokomotive“ in einen „kranken Menschen Europas“ vor unseren Augen verwandelt habe.
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Und wissen Sie, man kann diesen Worten beipflichten. Da in der Tat eine zielgerichtete Zerstörung der Nachfrage nach Gas erfolgt. Es ergibt sich aber die Frage: Wozu wird dies getan? Zu was kann dies führen? Und was für Konsequenzen wird dies haben?
Die Dynamik des Rückgangs des Gasverbrauchs in der EU und in Großbritannien hält an. Beispielsweise ist es in den ersten neun Monaten dieses Jahres ein weiteres Minus von elf Milliarden Kubikmetern im Vergleich zum analogen Zeitraum 2023. Indessen hat die Europäische Union im Jahr 2023 im Vergleich zum Jahr 2019 wertmäßig 2,7 Prozent des BIP mehr bezahlt (Anmerkung: für den Import fossiler Brennstoffe). Vergangen sind lediglich vier Jahre. Selbst solch eine geringe, nachgelassene Nachfrage nach Gas verlangt letztlich, wie wir sehen, kolossale, gewaltige finanzielle Aufwendungen.
Hier müssen wir zusammen aber auch verstehen: Es gibt eine geringe, es gibt eine große Nachfrage. Aber man muss die Gasbilanz für Eingänge und Verteilung auf irgendeine Art und Weise ziehen. Und wenn eine Verringerung der Umfänge von Lieferungen auf den Markt erfolgt, so muss es doch im Großen und Ganzen irgendwen geben, der das Nachsehen hat. Irgendwer muss Schaden davontragen.
Nun, nehmen wir die Europäische Union in Betracht. Sie haben sich augenscheinlich nichts Besseres ausdenken können. Sie haben ihre eigene, die europäische Industrie ausgewählt, die das Nachsehen hat. Und nicht einfach die europäische Industrie, sondern das Rückgrat der Wirtschaft der Europäischen Union, da die gasintensiven Branchen – die Stahlgießereien sowie Zement- und Chemieindustrie – es sind mehr als ein Dutzend solcher Branchen – nämlich Branchen sind, die wirklich die Grundlage, die Basis der Wirtschaft Europas bilden.
Solch eine Politik hat im Grunde genommen dazu geführt, dass hinsichtlich dieses Dutzends in mehreren Branchen in den letzten anderthalb Jahren die Produktion um beinahe zehn Prozent gesunken ist. Diese Branchen haben ein Minimum der Produktion hinsichtlich des letzten Jahrzehnts erreicht. In einigen Branchen haben die Selbstkosten für die Herstellung von Erzeugnissen in gerade einmal anderthalb Jahren um 25 Prozent zugenommen.
Natürlich trifft dies alles letztlich stark die europäische Industrie. Und es ist durch alle eingestanden worden, dass der Prozess einer Deindustrialisierung der Europäischen Union sozusagen im vollen Gange ist.
Dabei, was Energietarife angeht. Die Energietarife steigen. Die Energietarife steigen, und sie nehmen mit einem sehr hohen Tempo zu. Hier muss man aber noch solch einen sehr wichtigen Faktor wie die Volatilität hervorheben, die Volatilität der Gaspreise.
Und wissen Sie etwa, wozu die Volatilität der Gaspreise samt hohen Energietarifen führt? Sie führt dazu, dass es unmöglich ist, eine Kontrolle über Aufwendungen für die nahe, die mittelfristige und umso mehr für die langfristige Perspektive vorzunehmen.
Da ergibt sich die Frage: Wie soll man da die Produktion für die nächsten Jahre planen?
Es stellt sich heraus, dass Industrieunternehmen der Europäischen Union in eine Situation geraten sind, in der einige Betriebe bereits einfach dichtgemacht haben. Und beispielsweise die Hälfte der Unternehmen Deutschlands – stellen Sie sich dies nur einmal vor – erwägt die Möglichkeit einer Verlegung ihrer Produktion in Drittländer oder einer Drosselung von Produktionsmengen. Und 20 Prozent der Unternehmen haben überhaupt die Finanzierung für Forschungs- und Entwicklungsarbeiten vollkommen eingestellt. Aber keine Finanzierung von FuE bedeutet keine neuen Technologien. Ohne Finanzierung von FuE gibt es keine technologische Entwicklung.
Schauen wir auf die andere Seite des Ozeans, auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Und vergleichen wir Preise für Elektroenergie und Gaspreise in den USA und in der Europäischen Union. Bei analogen Branchen in den Vereinigten Staaten von Amerika liegen die Strompreise ums 2- bis 3fache und Gaspreise ums 4- bis 5fache niedriger.
Die Frage, die da absolut eindeutig steht, ist: Kann denn in diesem Fall die europäische Industrie wettbewerbsfähig sein? Die Antwort ist: kaum. Sie kann es nicht.
Im Grunde genommen, was wird weiter der Fall sein? Ich formuliere es kurz. Es wird sich der Prozess der Deindustrialisierung Europas fortsetzen. Dies zum einen. Die Volatilität auf dem Gasmarkt wird noch mehr zunehmen. Und das Unangenehmste: Solch eine Politik und solch eine Situation auf dem europäischen Gasmarkt können zu einem neuen Preisschock für Gas und zu Störungen bei Lieferungen führen.
Moderatorin: Wie bewerten Sie die gegenwärtigen Preistrends auf den internationalen Gasmärkten?
Alexey Miller: Wenn man über die wichtigsten Preistrends auf den internationalen Gasmärkten spricht, so würde ich gern in erster Linie jene Veränderungen hervorheben, die sich gerade auf dem europäischen Markt, der erst vor kurzem für uns der wichtigste Markt war, vollzogen haben.
In der letzten Zeit hat sich sehr viel verändert, was den Mechanismus der Preisbildung beeinflusste. Es erfolgte ein Verzicht auf langfristige Verträge mit voraussagbaren Preisen. Und andererseits ist ein neuer großer, ein ernsthafter Akteur aufgetaucht. Der Name dieses Akteurs ist „spekulatives Kapital“. Ergeben haben sich neue Spielregeln. Aufgekommen sind neue Handelsalgorithmen.
Europäische Investitionsfonds haben bei einzelnen Positionen Mengen in einem Umfang von 25 Milliarden Kubikmetern Gas in ihren Händen, was einem Viertel des gesamten Gasvolumens entspricht, das in die Untergrundspeicher der Europäischen Union eingespeichert wurde. Aber dies ist kein Endverbraucher. Dies ist ein spekulativer Akteur. Und wir betrachten bereits einfach sehr markante Situationen, die belegen, dass dieser Akteur einen sehr, sehr starken Einfluss auf die Preisbildung und auf eine hohe Volatilität ausübt.
Gerade erst vor kurzem – ich werde keinen konkreten Deal, keine konkreten Unternehmen nennen – taucht die Information auf, dass ein großer Vertrag abgeschlossen wurde. Ein sehr großer, über sehr große Mengen. Die Information, die auf dem Markt auftaucht, auf dem es jetzt solch einen ernsthaften Akteur gibt, verursacht solch eine Preisbewegung auf dem Markt, was wir bis dahin nie fixiert hatten. Innerhalb von 21 Minuten schnellen die Gaspreise um zwölf Prozent in die Höhe.
Aber was ereignet sich am nächsten Tag? Die Börsengeschäfte des nächsten Tages beginnen. Und die Preise kehren auf früheres Niveau zurück. Warum? Weil es zu einem Dementi dessen kommt, dass solch ein Deal stattgefunden habe und dass es ihn gebe.
Und wie Sie wissen, verdient das spekulative Kapital sowohl dank steigenden als auch dank fallenden Trends. Wir sehen gegenwärtig eine Zunahme der Preise. Dennoch aber: Welches sind denn im Grunde genommen die Voraussetzungen für ein Steigen der Preise bei den absolut fundamentalen und bärischen Faktoren?
Wir sehen eine Verringerung der Nachfrage nach Gas. Ist das eine Tatsache? Es ist ein Fakt. Ist das eine bärische Position? Es ist eine bärische Position. Wobei dies eine sehr, sehr starke bärische Position ist. Die Nachfrage nach Gas geht zurück, die Preise für Gas steigen jedoch. Das Einspeichern von Gas in die Untergrundspeicher Europas ist eine sehr, sehr umfangreiche. Die Werte kommen den maximalen, den Rekordwerten für die ganze Geschichte nahe. Ist das ein bärischer Faktor? Das ist ein bärischer Faktor. Und die Preise steigen.
Und wir fixieren ganz einfach, dass die Volatilität zunimmt. Und sie nimmt sehr, sehr schnell zu, mit einem großen Tempo. Wenn wir uns die Volatilität der Preise im Verlauf eines Börsen-Handelstages ansehen, so möchte ich Ihnen als ein Beispiel sagen, dass bis zum Jahr 2020 die Abweichungen vom Preis zu Beginn der Börsengeschäfte im Tagesverlauf ein Plus oder ein Minus von fünf Prozent ausmachten. Das war die Zeit von COVID-19, das Jahr 2020 bis etwa das zweite Quartal des Jahres 2021. In der Zeit von COVID-19 lagen die Schwankungen bei einem Plus oder einem Minus von zehn Prozent im Verlauf der Börsengeschäfte, im Verlauf des Tages.
Das Jahr 2022 brachte eine drastische Verringerung der russischen Gaslieferungen für den europäischen Markt. Die Börsengeschäfte der Herbst-Winter-Perioden demonstrierten auf den europäischen Handelsplätzen eine Volatilität der Preise im Tagesverlauf ein Plus oder ein Minus von 15 Prozent.
Das heißt: Es stellt sich heraus, dass die Verringerung der russischen Gaslieferungen für den europäischen Gasmarkt schlimmer als COVID-19 war. Und dies ist eine Tatsache. Eine anschauliche Tatsache.
Schauen wir auf die Preise buchstäblich der allerletzten Zeit. Ich werde hier mit den Preisen vom August – September operieren. Der Oktober ist für uns noch nicht abgeschlossen. Im August – September haben wir die Preisschere von 370 US-Dollar für 1.000 Kubikmeter bis 460 US-Dollar für 1.000 Kubikmeter. Das ist ein Plus von 25 Prozent. Der durchschnittliche Jahrespreis, der sich derzeit zum Ende des Jahres 2024 ergibt, ist zweimal höher als der Durchschnittspreis des Zeitraums 2016–2020.
Das heißt: Wir fixieren zusammen einerseits eine sehr große Volatilität. Wir fixieren gemeinsam ein hohes Preisniveau. Und wir fixieren, dass neue Player aufgetaucht sind. Die traditionellen Mechanismen, die Stabilität, Voraussagbarkeit und wirtschaftliche Effizienz für die Industrie vermittelten, sind der Geschichte anheimgefallen. Und die Situation wird durch einen sehr, sehr hohen Grad an Unbestimmtheit charakterisiert.
Wenn man Schätzungen dafür vornimmt, was sich doch weiter ereignen wird – wir haben heute bereits darüber gesprochen –, so wird die Volatilität zunehmen. Ja, und was die absoluten Preise für Gas angeht, so besteht augenscheinlich die Wahrscheinlichkeit eines neuen Preisschocks für Europa. Er wird sehr, sehr stark „ab Null“ sein. Und dem pflichten fast alle Experten des Gasmarktes bei, die sehen, dass sich auf dem Markt sehr ernsthafte, grundlegende Veränderungen vollzogen haben. Die leider nicht mehr Zuverlässigkeit, nicht mehr Stabilität und nicht mehr Beständigkeit auf dem Gasmarkt bewirken.
Moderatorin: Danke, Herr Miller. Ich denke, dass wir mit der letzten Frage die gesamte Plenartagung bilanzieren. Und wir sprechen darüber, was hier gesagt wurde.
Was meinen Sie: Wie wird sich die neue Energie-Weltordnung gestalten? Und was für Möglichkeiten eröffnet dies für Russland?
Alexey Miller: Heute haben wir über grundlegende und globale Veränderungen gesprochen. Und zweifellos wird die Gestaltung einer neuen Welt-Energie-Ordnung in erster Linie durch das weitere weltweite Bevölkerungswachstum bestimmt werden. Und dies bedeutet das Auftauchen neuer Verbraucher. Das Auftauchen neuer Verbraucher bedeutet ein Wirtschaftswachstum. Dies ist eine Zunahme des Stromverbrauchs. Und in erster Linie ist dies eine Zunahme nicht bloß des Stromverbrauchs, sondern eine Zunahme des Verbrauchs von Gas, der zuverlässigsten, der ökologisch saubersten und wirtschaftlich effektivsten primären Ressource.
Hier haben wir gleichfalls hervorgehoben, wie schnell sich die Digitalisierung entwickelt. Und wir sehen markante Beispiele im Brennstoff- und Energiekomplex. Die Digitalisierung ist eine energieaufwendige Sache. Und eine weitere Forcierung des Tempos der Digitalisierung in der ganzen Welt verlangt zweifellos noch mehr Energieressourcen.
Dabei prognostizieren wir eine globale Gas-Nachfrage im Jahr 2050 auf einem Niveau von 5,7 Billionen Kubikmeter Gas. Und Gas wird der Spitzenreiter dieser Bilanz mit 26 Prozent sein. Nummer eins.
Zur Bestätigung kann ich eine Zahl dieses Jahres anführen. Innerhalb der ersten neun Monate des Jahres 2024 hat im Vergleich zum analogen Zeitraum des vergangenen Jahres die weltweite Nachfrage nach Gas um 60 Milliarden Kubikmeter zugenommen. Zu 80 Prozent wurden diese 60 Milliarden Kubikmeter Zunahme durch drei Länder ausgelöst. Dies sind China, Indien und Russland.
Und ich würde hier noch gern natürlich auch die Rolle der Länder des Globalen Südens betonen. Vor 25 Jahren verbrauchten die Länder des Globalen Südens 45 Prozent der weltweiten Nachfrage nach Gas. Gegenwärtig verbrauchen sie 55 Prozent der weltweiten Nachfrage nach Gas. Entsprechend unserer Schätzungen wird bis zum Jahr 2050 der Umfang des Gasverbrauchs durch diese Länder in der globalen Energiebilanz 70 Prozent ausmachen.
Und hier muss hervorgehoben werden, dass wir Augenzeugen und Teilnehmer einer völlig einmaligen Erscheinung sind, der Gestaltung einer neuen stabilen Gas-Region, die – ich würde es so bestimmen – durch Zentral- und Südasien, den Kaukasus, den Fernen Osten, aber auch mit einer weiteren Schaffung neuer großer exportorientierter Korridore in der Richtung Nord-Ost-Asiens – gebildet wird.
Wir müssen hier ein konkretes Beispiel anführen, da Vertreter dieser Region hier bei uns im Saal zugegen sind. Ich möchte sagen, dass Gazprom in den ersten neun Monaten des Jahres 2024 im Vergleich zum analogen Zeitraum des vergangenen Jahres den Umfang der Gaslieferungen in die Länder Zentralasiens um das 2fache erhöhte. So etwas hatte es nie gegeben.
Und wir setzen unsere Arbeit fort. Ich kann sagen, dass die Arbeit im Rahmen des Forums noch fortgesetzt wird. Uns stehen sehr ernsthafte Gespräche bevor. Und ich bin zuversichtlich, dass neue Vereinbarungen erzielt sowie neue Ziele und neue Aufgaben gestellt werden.
Ich möchte gern einige Worte auch über solch einen großen Erzeuger wie die Vereinigten Staaten von Amerika im Zusammenhang damit sagen, wie denn doch die neue globale Welt-Energie-Ordnung gestaltet werden wird.
Lassen Sie uns anschauen, was sich in den USA vollzieht. In den USA erfolgt eine Verringerung des Tempos der Gasförderung. Dies zum einen. Dazu kommen eine Erschöpfung der Schiefergaslagerstätten, eine Verringerung der Finanzierung für die geologischen Erkundungsarbeiten und die Zunahme der Inlandsnachfrage. Und was das Interessanteste ist: Wir sehen in diesem Jahr im Vergleich zum analogen Zeitraum des Vorjahres, dass der Import von Pipelinegas aus Kanada durch die Vereinigten Staaten von Amerika um sechs Prozent angestiegen ist. Nur wenige wissen darum. Überhaupt wissen wenige, dass die Vereinigten Staaten von Amerika auch ein Importeur von Gas sind. Und sie bewahren so ihre Gasbilanz.
Wenn man über die Möglichkeiten für Russland spricht, so bestehen in Fortsetzung all jener Thesen, die heute im Rahmen unserer Plenartagung zu vernehmen waren, die neuen Möglichkeiten zweifellos in gerechten Prinzipien für die globale Zusammenarbeit auf dem Gasmarkt im Rahmen solcher Wirtschaftsvereinigungen wie BRICS. Dies zum einen.
Zum anderen, all jene globalen Veränderungen auf dem Gasmarkt, die wir heute gemeinsam erörtert, die wir hervorgehoben haben, sie schaffen die Möglichkeit, den russischen Gassektor zu einem noch stabileren zu machen. Die Ausstellung unseres Forums ist dafür eine sinnfällige Bestätigung. Und dies ist nur der Anfang.
Und womit ich abschließen möchte: Natürlich, aus der Sicht der Möglichkeiten ist dies eine Verstärkung der eigenen Führungspositionen auf dem weltweiten Energiemarkt durch Russland.
Danke!