Bowanenkowo hält den Atem an, wenn Rentier-Herden vorbeiziehen
Übersicht
Fotostrecke
15. Mai 2014
Heute berichten wir, wie die Aufgabe angegangen wird, die sich bislang keine Öl- oder Gasgesellschaft der Welt angelegen sein ließ. Dazu schließen wir uns dem Team an, das die Vorbereitung des Erdgasfeldes Bowanenkowskoje auf die Rentierwanderung prüfen soll, kehren bei Rentierzüchtern ein und werden uns anschauen, wie die meistfrequentierte Autostraße auf der Jamal-Halbinsel gesperrt wird.

Die Jamal-Halbinsel mit der Lagerstätte Bowanenkowskoje besitzt mit mehr als 300.000 Rentieren mit den weltgrößten Bestand an Vertretern dieser domestizierten Tierart. Etwa 20 Prozent des Bestands gehören drei kommunalen Rentierbetrieben, der Rest entfällt auf private Rentierzüchter und Gemeinden kleiner Völker des Nordens. Jede Herde wandert dabei über das Territorium der Halbinsel auf ihrer eigenen Route.

Hier heißt es, nicht der Hirte hüte seine Herde, sondern die Herde hüte den Hirten. Im Sommer, auf der Flucht vor Stechmücken und „Hitze“ (auf der Halbinsel ist alles, was über Null Grad Celsius hinausgeht, Hitze) streben die Herden dem Norden zu. Und da nehmen die Rentiere den gut vertrauten nordwärts führenden Weg, auf dem ihre Vorfahren vor zehn oder vor hundert Jahren gewandert waren – egal, ob es dem Rentierzüchter passt oder nicht.

Was geschieht aber, wenn sie nun auf diesem Weg eine der größten Gazprom-Lagerstätten mit Eisenbahn und Autostraßen, Flugplatz, Rohrleitungen und sonstiger großdimensionierter Infrastruktur passieren müssen? So ist hier eben der Fall. Durch das Territorium des Erdgasvorkommens Bowanenkowskoje verlaufen die Rentier-Wanderwege von zwei Züchterbrigaden des kommunalen Rentier-Betriebs Jarsalinskoje – der Brigaden No. 4 und No. 8.

Gazprom hat mit allen verfügbaren Mitteln dafür gesorgt, die traditionelle Lebensweise der Stammbewohner der Tundra durch industrielle Erschließung der Jamal-Halbinsel nicht zu beeinträchtigen.

Gazprom-Spezialisten und Rentierzüchter hatten bereits in der Anfangsphase der Bauaktivitäten auf dem Feld Bowanenkowskoje ausgemacht, wo und wie Tiere und Menschen über das Territorium der Lagerstätten wandern sollten, und an den Stellen, wo Straßen und Rohrleitungen die Wanderwege der Tiere kreuzen, spezielle Übergänge eingerichtet.

Jedes Jahr wird der Bereitschaftsstand dieser Übergänge vor Beginn der Wanderung der Rentiere durch das Gebiet der Lagerstätte von einer Arbeitsgruppe geprüft, der Vertreter der Administration des Autonomen Bezirks der Jamal-Nenzen, der Bürgerinitiative „Jamal“ und der Gazprom-Tochter ООО Gazprom Dobycha Nadym angehören.

Die Arbeitsgruppe erreicht die Lagerstätte per Hubschrauber.

Unterwegs sind mehrere Landungen absolutes Muss: Verwandte kriegen Mitbringsel aus dem Bezirkszentrum.

Für diese Familie ist die Tochter, eine Studentin, die ihre Sommerferien bei den Eltern verbringen will, dieses „Mitbringsel“.

Nun haben wir die Studentin abgesetzt und fliegen weiter.

Die berühmte Brücke über den Fluß Juribei ist die weltlängste Brücke jenseits des Polarkreises. Im Sommer ist die hiesige Landschaft besonders schön

Nun ist es endlich soweit: Wir sind in Bowanenkowo.

Um Übergänge zu inspizieren und Siedlungen der Rentierzüchter aufzusuchen, bedarf es spezieller Beförderungsmittel. Bevor der Fahrer die feste Straße verlässt, muss er den Druck in den riesigen Rädern etwas reduzieren: Die Vegetationsschicht der Tundra soll geschont werden.

Erster Halt in der Rentierzüchter-Brigade No. 8.

Die Züchter sind bereits auf dem Gelände des Vorkommens, die Besprechung kann also gleich beginnen. Die Gäste meinen, die Übergänge an den fraglichen Kreuzungen vorläufig schon begutachtet zu haben und zufrieden zu sein.

Der Leiter der Brigade, Maiko Serotetto, hat eine Bitte: an den Eisenbahn-Übergang sollten Holzbalken gebracht und zwischen den Gleisen verlegt werden, weil sonst die Schlittenkufen beschädigt würden. Das wird ihm zugesichert!

Alle Absprachen sind nun getroffen. Da bietet sich ein gemeinsames Erinnerungs-Foto an.

Rundum finden sich sehr viele Kinder. Vom Ende August bis Anfang Juni wohnen und lernen die Schüler in einem Internat im Bezirkszentrum Jar-Sale. Aber für die Sommerferien fliegen sie nach Möglichkeit zu ihren Eltern ‘rüber.

Nenzen-Familien sind groß. Der Brigadeleiter hat beispielsweise sechs Kinder. Das Bild zeigt allerdings nicht alle von ihnen. Über alle ragt, wie es einer echten Tschum-„Chefin“ auch geziemt, die Frau des Brigadiers Edejne (auf gut Deutsch „Neue Frau“). Die drei Burschen sind ihre Kinder. Der vier Monate alte Gleb – ein Neffe des Brigadeleiters – sitzt bei seiner Mama auf den Knien.

Der kleine Gleb mit seinem Vater.

Die Äpfel schmecken richtig gut!

Und dies ist, wie die Freunde sozialer Netzwerke sagen würden, der todschicke Bogen des Serotetto junior.

Es dämmert langsam. Schlittentiere werden auf speziell eingegrenzter Fläche zusammengetrieben, um welche zum Einspannen zu selektieren. Sie ziehen dann die Schlitten mit den „Rentierzüchtern vom Dienst“, die die Herde überwachen.

Groß und klein machen mit, wenn es gilt, die Tiere zusammenzutreiben.

Alle geben sich große Mühe.

Frauen helfen mit.

Unter den heranwachsenden Nenzen weiblichen Geschlechts träumen interessanterweise die meisten davon, nach Schulabschluss die Bildung an einer Hochschule fortzusetzen und anschließend in einer Stadt zu leben und zu arbeiten.



Dagegen schwärmen junge Burschen meistens davon, so schnell wie möglich die Schule hinter sich zu bringen und vollwertiger Helfer des Vaters bei der Versorgung der Herde zu werden.



Wir verlassen die 8. Brigade am späten Abend. Um diese Jahreszeit wird es hier überhaupt nicht dunkel.

Der Zustand eines Übergangs wird geprüft. Hier wurde in ausreichender Breite sanft abfallender Straßenrand aufgeschüttet, damit Rentiere mit Schlitten ungestört laufen können. Ein Abschnitt der Rohrleitung wurde angehoben, um zu verhindern; dass sich Menschen oder Tiere verletzen.

Das Wetter auf der Halbinsel ist unvorhersagbar. Am Abend schien noch die Sonne und das Thermometer zeigte fast 25 Grad Wärme, nun sind es aber knapp acht Grad. Es ist windig und nebelig. An einige Abschnitte von Straßen und Leitungen kommt auch kein Geländewagen heran. Da heißt es nun zu Fuß marschieren. Gummistiefel sind willkommen.

Das Ziel dieser Fußwanderung ist es, die Qualität der Aufschüttung über einer Rohrleitung zu prüfen. Es ist nicht immer möglich, das Rohr über die Oberfläche der Tundra zu heben. Manchmal ist eine sanft abfallende Aufschüttung günstiger, die mit speziellem Netz stabilisiert und mit Gras besät wird. Hier finden die Prüfer alles in Ordnung.

Nach der Besichtigung aller Übergänge – es sind ihrer übrigens elf an der Zahl – begibt sich das Prüferteam zum Standort der Rentierzucht-Brigade No. 4.

Dieser liegt praktisch im Zentrum des Vorkommens. Am Horizont sind die Anlagen des Gasfeldes № 2 erkennbar, das es auf 60 Milliarden Kubikmeter pro Jahr bringt.

Nebenan verläuft die belebteste Autostraße des Vorkommens, ja der ganzen Jamal-Halbinsel. Sie verbindet das Gasfeld mit dem Industriestützpunkt mit Wohnanlagen für das Schichtpersonal, Büroräumen, Hotel, Kantine, Kesselhaus, Speichern und anderen Hilfsobjekten. Kurzum, der Verkehr ruht hier auch nicht für eine Minute.

Die Tiere weiden in unmittelbarer Nähe von Produktionsanlagen.

Rentiere lassen sich durch bunte Broschüren zum Thema Umweltschutz nicht irreführen. Wenn Flechte oder Gras durch etwas verunreinigt ist, rühren sie es einfach nicht an, und zwar rein instinktiv. Das ist es, weshalb solcherart Bilder bei ausländischen Kollegen auf Misstrauen stoßen, die Herzen der Gazprom-Ökologen aber mit Freude erfüllen.

Rentierzüchter-Brigade No. 4. Es ist kühl. Alles erholt sich nach dem nächtlichen Einsatz in den Spitzjurten, den Tschums, der Brigadier lädt aber zum Tee ein.

Die Hausfrau im Tschum ist die Hüterin des Herdes. Für den Tee wird Brennholz und Wasser benötigt. Letzteres kommt aus einem nebenan liegenden See. Keine Filter, kein Chlor. Ein weiterer Tropfen Balsam auf das Herz eines Gazprom-Ökologen.

Brigadeleiter Njadma Chudi (ganz links) erzählt, die belebte Straße soll heute Abend überquert werden. Beim Tee wird die Zeit vereinbart, wann der Verkehr gestoppt werden soll.
Jemand mag den Tschum viel zu bescheiden finden. Dies hier ist die leichte Wander-Option für den Sommer. Das Zelt wird binnen 15–20 Minuten auf- bzw. abgebaut. Anstelle von traditionellen Rentierhäuten wird zur Abdeckung Plane verwendet. Wenn jemand immer wieder umziehen muss, ist es wenig wirksam, Zeit für Komfort und Ausschmückung zu verschwenden. Im Winter dagegen gibt es hier einen Holzboden und jede Menge Rentierfelle, ja alles wirkt insgesamt gemütlicher.

Während der Schichtbus, der die Arbeitsgruppe befördert, auf die Fahrgäste wartet, die gerade in eine Aussprache mit dem Brigadeleiter vertieft sind, bittet eine Gruppe Rentierzüchter, sie zum Wohnblock der Schichtsiedlung „hinzuschaukeln“.

Ihr Ziel ist der Lebensmittel-Laden, der einzige in einem Umkreis von Hunderten von Kilometern.
„Neunzig Brote bitte“.
Die Verkäuferin ist keineswegs irritiert. Rentierzüchter sind hier häufige Gäste.

Nun sind die Tschums abgebaut, Hab und Gut verpackt – es kann losgehen.

Damit die beladenen Schlitten leichter gleiten können und ihre Kufen unversehrt bleiben, wird der Übergang mit speziellem Geotextilstoff namens Dornit abgedeckt.

Allen voran kommt der Brigadier gefahren.

Er überquert denn auch die Straße als erster.

Dem Brigadier folgt eine lange Reihe aus jeweils mehreren miteinander gekoppelten Schlitten.

Auf den Schlitten zieht alles mit: Zelt, Hausrat, Nahrung, Kleidung und Kinder.

Auf der gesperrten Straße sammeln sich langsam Autos an. Die Fahrer steigen aus. Aber niemand schimpft, niemand hupt und, was wohl das Wichtigste ist, niemand versucht näher zu treten. Zwar nicht über Nacht, aber die Menschen haben es doch gelernt, die Lebensweise und die Gepflogenheiten der angestammten Bevölkerung der Jamal-Halbinsel zu respektieren.

Und auch die Gepflogenheiten des weiblichen Teils dieser Bevölkerung. Die Ehefrauen der Rentierzüchter sind übrigens wohl die einzigen Hausfrauen der Welt, die eine offizielle Vergütung beziehen. Ihre Männer arbeiten im Zuchtbetrieb Jarsalinskoje als Hirten und Brigadeleiter und sie – offiziell, mit Arbeitszeit-Nachweis und bezahltem Urlaub – als, wie es hier heißt, „Tschum-Arbeiterinnen“. Die Tätigkeit ist ganz gewiss alles andere als leicht. Der Mann darf im Tschum nur essen und schlafen. Alles andere – selbst der Aufbau des Tschums an sich – obliegt der Frau.

Zuerst kommt eine lange Karawane und nach ihr die eigentliche Herde.

Nicht eingespannte Rentiere können die Straße auch ohne Abdeckung passieren. Nur darf es an Straßenrändern keine steilen Hänge geben. Dieses ausgesprochene Flachland-Tier ist keinen Bodenerhebungen gewachsen.

Gleich hinter der Straße verläuft eine Rohrleitung, die zusätzlich über der Erde angehoben wurde.

Die Herde versammelt sich langsam am anderen Ufer des „Autoflusses“.

Der „Fluß“ selbst wird indes immer „wasserreicher“.

Noch eine Weile.

Und noch ein Bisschen. Jemand mag die Tiere ungepflegt finden. Das stimmt. Der Sommer ist die Zeit des Haarwechsels.

Das Geweih der Männchen füllt sich in dieser Zeit mit Blut, es wird weich und bedeckt sich mit Haarflaum. Dieses Geweih ist dann ein wertvolles Material zur Herstellung allgemein stärkender und tonisierender Biopräparate.

Während die Tiere noch die Straße passieren, stellen sich die Züchter für ein Erinnerungsfoto auf. Die Hunde gehören als vollwertige Mitglieder der Gruppe dazu. Es scheint, als würden sie die Rentiere in die erforderliche Richtung treiben, ohne von ihrem Herrn irgendwelche Befehle zu bekommen. Im Bild steht ihnen daher ein Ehrenplatz zu.

Es ist soweit. Die Herde hat vierzig Minuten gebraucht, um die Straße zu überqueren. Der Verkehr fließt ungestört weiter. Auf dem Weg der vierten Brigade liegt heute noch eine Straße. Sie ist weniger ausgelastet, wird aber vorsichtshalber ebenfalls gesperrt. Und dann geht es ohne jegliche Behinderungen weiter gen Norden.

Die Rentiere erreichen die Karasee, wo kühler Wind vom Nordpolarmeer sie vor zudringlichen Insekten retten wird und wo es an der Küste ein (den Rentieren freilich) so gut schmeckendes Seesalz gibt. Der Sommer ist schnell vorbei. Im August geht es wieder zurück. Kurz nach dem Zwanzigsten will der Brigadier das Gasfeld Bowanenkowskoje in entgegengesetzter – der südlichen – Richtung passieren.
