Wenn die Käufer nicht mehr können und die Verkäufer nicht mehr wollen
1. September 2014
Der Beitrag erschien im Heft Nr. 9 der Gazprom Korporationszeitschrift
Diskussion
Der europäische Markt auf dem Kreuzweg
Nach dem Rekord des vorigen Jahres wächst der Vertrieb der Gazprom auf dem europäischen Markt stabil. Kann man aber davon ausgehen, dass mit der bestehenden Situation alle Teilnehmer des Gasmarktes zufrieden sind? Ein Zeugnis der Ungenugtuung ist die fast normal gewordene Konfliktsituation um die Preisbedingungen für langfristige Vertrage mit den Unternehmen der Erdgasexportländer. Gazprom ist in diesem Sinne keine Ausnahme. Genauso wie andere Lieferanten, steht sie unter Druck seitens ihrer Partner, die konsequent Senkung der Vertragspreise zu erlangen versuchen. Der Vertrieb des russischen Gases steigt, währen Preise ständig revidiert werden, nicht selten unter Involvierung von Schiedsgerichten. Wenn solche Käufer Ermäßigungen bekommen, die häufig durch retroaktive Zahlungen begleitet werden, geben sie sich mit dem Erreichten nicht zufrieden, sondern stellen neue Forderungen. Die Erfolge eines der Kunden im Bereich der Preissenkung werden zu einem Orientierungspunkt für die anderen. Der Feldzug, um neue Ermäßigungen zu ergattern, der durch die Europäische Kommission und durch die nationalen Regierungen allseitig unterstützt wird, ist zu einer massenhaften Erscheinung geworden und beginnt, eine Bedrohung für einen stabilen Expoterlös darzustellen.
Versuchen wir, dem Problem auf den Grund zu gehen, und die Frage zu beantworten, inwiefern die Anforderungen bezüglich der Preisrevision gerechtfertigt sind. Ohne Fertigrezepte vorzuschlagen, wollen wir die Palette der möglichen Aktivitäten analysieren, die die Situation harmonisieren und die Geschäftsinteressen von Gaslieferanten schützen könnten.
Argumentation der Käufer
Forderungen in Bezug auf die Preissenkung werden durch Partner der Gazprom folgenderweise argumentiert:
- auf den europäischen Handelsplattformen mit höchster Liquidität (Hubs) gestaltete sich der einheitliche, gerechte und tatsächlich marktwirtschaftliche Preis für Erdgas aus, der durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage in Bezug auf diese Energieressource bestimmt wird. Somit ist das Erdgas aus einer besonderen zu einer gewöhnlichen Ware geworden, wie tausende andere;
- als wichtiges Instrument für den Werdegang der Gasindustrie erfüllte die erdöl- bzw. erdölproduktgebundene Indexierung ihre historische Mission. Der Bedarf daran existieret unter den neuen Bedingungen nicht mehr, da in den Hubs das alternative Zentrum der Preisbildung entstanden ist. Außerdem veränderten sich wesentlich die Bedingungen des Wettbewerbs unter verschiedenen Brennstoffen. Erdölprodukte werden in der Wärmeenergieerzeugung in Europa nicht mehr eingesetzt und können nicht mehr als Ersatz für den Erdgas betrachtet werden;
- Spotpreise, die durch die Hubs generiert werden, wurden zum in der Branche allgemein anerkannten Preisindikator, auf den sich große Endkäufer von Erdgas orientieren, folglich müssen die Importeure, d.h. Partner der Gazprom, im Rahmen der langfristigen Verträge diesen Indikator anerkennen;
- „Preiskriege“, die unter sich Großhandelskäufer und –verkäufer führen, hätten nicht entstanden, wenn sich die Spotpreise und die Vertragspreise voneinander nicht stark unterschieden hätten. In der Regel sind aber die Hubpreise niedriger, als die Preise der langfristigen Verträge mit Erdölproduktindexierung. Nach der Meinung der Kunden der Gazprom, ist es darauf zurückzuführen, dass die Situation auf dem europäischen Markt im Ganzen durch ein Überangebot von Erdgas gekennzeichnet ist, während sein Verbrauch sinkt;
- Wenn die Importeure das Gas zu Preisen der langfristigen Verträge beziehen und dieses zu spotnahen Preisen vertreiben, so bekommen sie, laut ihren Aussagen, eine negative Marge im Gashandel. Dies zwingt sie, Gazprom um Ermäßigungen zu bitten und retroaktive Zahlungen zu fordern, die nachträglich ihre Verluste im Rahmen der langfristigen Verträge ausgleichen können. Als Alternative für die unendlichen Preisrevisionen schlagen die Kunden vor, eindeutig von der Erdölindexierung Abstand zu nehmen und voll und endgültig zur Preisbildung auf der Basis von Angebot und Nachfrage zu übergehen.
In der Realität ist der Gaspreis von dem Ölpreis abhängig
Wenn auch das Bild, das von unseren Kunden und von Analysten und Massenmedien, die dessen Interessen vertreten, gezeichnet wird, glaubwürdig erscheint, unterscheidet sich es doch wesentlich von der Realität. Die Wirklichkeit ist viel komplizierter und vielfältiger. Beginnen wir mit der Feststellung, dass es auf dem Gasmarkt zu einem Paradigmenwechsel der Preisbildung im Zusammenhang mit der Erscheinung des wirklich unabhängigen alternativen Preises gekommen ist. Im Laufe vieler Jahrzehnte wurde hier der Erdgaspreis durch ein einmaliges Verfahren – durch der Preis des „Korbes“ von Ersatzerdölprodukten – definieret. Die Logik dieser Preisbildungsmethode, die an sich marktwirtschaftlich ist, besteht im Folgenden: Der Gaspreis ist der Preis, den der Käufer im Falle der Minderlieferung von Erdgas für Ersatzerdölprodukte zur Erreichung des gleichen Energieeffekts zu bezahlen gezwungen gewesen wäre (das so genannte Substitutionsprinzip). Bei einer solchen exotischen Form der Preisbildung haben das Angebot und die Nachfrage nach Erdgas gar keinen Einfluss auf seinen Preis, der durch die Dynamik des Erdöl- und Erdölproduktmarktes mit einer gewissen Zeitverzögerung bestimmt wird.
Mit der Entwicklung von Handelsplattformen begannen sich die Preise darauf unter Einfluss von Angebot und Nachfrage nach Erdgas zu gestalten. Allerdings waren diese Preise dabei kein Ergebnis des allgemeinen Gleichgewichts auf dem europäischen Gasmarkt, d.h. sie übernahmen die Funktion, die denen von unseren Partnern eifrig zugeschrieben wird, nicht. Das geschieht aus dem Grunde, dass die Hubs das Gesamtbild des Marktes nicht widerspiegeln, sondern nur mit Restgasmengen operieren, die sich im freien Verkehr außerhalb der Lieferungen im Rahmen der langfristigen Verträge befinden, wo die Preisbildung nach anderen Prinzipien geschieht.
Da langfristige Verträge mit erdölgebundener Indexierung nach wie vor dominieren (ihr Anteil im importierten Gas betrug 2013 nach unserer Einschätzung über 73 Prozent), so geben gerade diese Vertragspreise den Basistrend für die Änderung der Spotnotierungen vor. Angebot und Nachfrage modulieren natürlich die Preisschwankungen um den von ihnen vorgegebenen Trend, einen größeren Einfluss haben sie aber nicht. Man kann diese Abhängigkeit bildlich mit den Laufbahnen der Erde und des Mondes vergleichen. Der Orbit des Mondes wird durch die Masse der Erde bestimmt, obwohl der Mond seinerseits im Stande ist, die Gezeiten auf der Erde zu beeinflussen.
Die Preise der Hubs sind nicht eigenständig. Sie hängen von den Preisen der langfristigen Verträge ab, sind an diese fest gebunden und entwickeln sich im Tandem. Um diese Abhängigkeit zu beobachten, braucht man kein Fachmann im Bereich der Gasmärkte zu sein (s. Kurvendiagramm 1). Es genügt, die Preisdynamik der langfristigen Verträge, dargestellt durch zwei Indizes – der der Weltbank und der des BAFA – mit Prisen auf den zwei europäischen Handelsplattformen mit der höchsten Liquidität – TTF (Niederlande) und NBP (Großbritannien) – zu vergleichen. Wenn Preise für Erdölprodukt-Verträge wachsen, dann folgt auch das Wachstum der Spotpreise. Diese sinken auch unvermeidlich nach der Preissenkung im Rahmen der langfristigen Verträge. Es gibt keine Gründe, die Meinung einiger Analysten zu teilen, dass die Spotpreise durch eine interne Stabilität gekennzeichnet sind und im Falle des Erdölpreiseinbruchs nicht stürzen werden. Wenn Erdölpreise aus irgendeinem Grunde drastisch verfallen werden, worauf es übrigens keinerlei Hinweise gibt, dann werde daraufhin auch die Preise der Erdgashubs sinken.
Westliche Experten, die behaupten, dass auf dem Erdgasmarkt, darunter auch in Europa, nach 2008 eine Epoche der Preisbildung auf der Basis des Angebots und der Nachfrage eingetreten ist, wurden verwirrt durch den phänomenalen Aufschwung der Spotpreise im dritten Quartal 2010, der nach allen Gesetzen der Wirtschafstheorie hätte nicht zustande kommen können. Dieser Aufschwung geschah unter den Bedingungen der rapiden Senkung der Nachfrage nach Erdgas und der Überfüllung des europäischen Marktes mit dem verflüssigten Gas aus Katar. Der „unerklärbare“ Aufschwung der Spotpreise im dritten Quartal 2010 hatte in der Realität mit der Bilanz von Angebot und Nachfrage auf dem Gasmarkt nichts zu tun. Seine Ursache war eine andere: bis Oktober 2010 sind die Verträge mit Endverbrauchern abgelaufen, und diese stürzten sich auf Gashandelsplattformen, um dort Erdgas anzukaufen. Die Verteuerung von Erdöl setzte einen neuen höheren Preisplafond für diese Plattformen.
Der Aufschwung der Spotpreise ruinierte damals den Finanzwohlstand vieler Partner der Gazprom, die aufrichtig glaubten, dass der Gasmarkt fing an, nach den neuen Regeln zu leben, die mit Erdölindizes nicht verbunden sind. Zum Zeitpunkt des Preisaufschwungs auf Handelplattformen verkauften sie bereits das ganze vertragsgebundene Erdgas auf der Grundlage der Terminkurve aus, die die Erwartungen des Marktes in Bezug auf den Gasüberfluss widerspiegelte.
Unsere Kalkulationen zeigen, dass zwischen dem Erdölpreis der Sorte Brent und den Spotpreisen eine schwache Korrelation besteht, die aber fast bis zur funktionellen Abhängigkeit (+0,86) bei der Anwendung des durchschnittlichen Gleitpreises für sechs bis neun Monate, also bei der Nutzung einer Entsprechung eines langfristigen Standardvertrages ansteigt. In der Fachliteratur erschienen zahlreiche Studien, die genau den Anteil des Erdgases auf dem Markt errechnen, das mit unterschiedlicher Preisindexierung verkauft wird, mit Vorhersagen für den Punkt ohne Wiederkehr, an dem sich das Gas von der Abhängigkeit vom Erdöl befreien wird.
Dieser Punkt ist allerdings noch nicht eingetreten und wird auch nicht eintreten, solange vier von den fünf wichtigsten Erdgaslieferanten für Europa (Russland, Algerien, Katar und künftig auch Aserbeidschan) von der Erdölindexierung in langfristigen Verträgen nicht Abstand nehmen. Obwohl Norwegen sich bereit erklärte, auf diesen Spot zu übergehen, ist es für die Änderung des Preisbildungssystems nicht ausreichend. Die Grundlagen für die Preisbildung nach dem Substitutionsprinzip bleiben in Kraft. Erdölprodukte werden natürlich in der europäischen Elektroenergieerzeugung nicht mehr eingesetzt; der Anteil von Gas, das in diesem Segment angewandt wird, beträgt aber in der EU lediglich 12,5 Prozent. Der Wettbewerb zwischen Erdgas und Erdölprodukten ist sowohl in der Industrie, als auch im kommunalen Wohnungsversorgungssektor nach wie vor stark und wird sich im Zuge der immer breiteren Nutzung von Erdgas als Motorenkraftstoff weiter verstärken.
Warum sind die Spotpreise gewöhnlich niedriger, als die Vertragspreise?
Das bestehende Preisbildungssystem in Europa muss als Hybridsystem mit Dominanz der Erdölindexierung bezeichnet werden. Es genügt allerdings eindeutig nicht, einfach festzustellen, dass die Preise der Hubs an Preise der langfristigen Verträge gebunden sind und in der Realität deren Derivate sind. Eine weitere Besonderheit des bestehenden Preisbildungssystems besteht darin, dass die Spotpreise in der Regel niedriger als die Vertragspreise sind. Es gibt zwei Gründe, die diesen Discount erklären lassen.
Das vertragsgebundene Gas ist Träger der Preisprämie für die Versorgungssicherheit und –flexibilität, über die das auf den Hubs zu verkaufende Erdgas nicht verfügt. Das vertragsgebundene Erdgas kann mit der Fahrzeugmiete mit Fahrer verglichen werden, während das Gas auf den Hubs der Automiete ohne Fahrer entsprechen würde.
Erstens ist das vertragsgebundene Erdgas ein Produkt einer anderen, höheren Qualität, als das Gas auf den Handelsplattformen; dort wird nur die Ware selbst in Standardlosen verkauft, ohne zusätzliche Dienstleistungen zu dessen Lieferung an den Kunden in variierenden Mengen, die dem tagtäglichen Bedarf des Kunden entsprechen. Durch diesen qualitativen Vorteil ist das vertragsgebundene Erdgas Träger der Preisprämie für die Versorgungssicherheit und –flexibilität, über die das auf den Hubs zu verkaufende Erdgas nicht verfügt. Nehmen wir eine Analogie aus der Welt der Autovermietung, so kann das vertragsgebundene Erdgas mit der Fahrzeugmiete mit Fahrer verglichen werden, während das Gas auf den Hubs der Automiete ohne Fahrer entsprechen würde. Es ist offensichtlich, dass der Tarif für die Fahrzeugmiete im ersten Falle höher sein wird, als im zweiten. Wenn man künstlich diese Tarife aneinander angleicht, wird der Markt schnell die Preisdifferenzierung wieder herstellen.
Etwas Ähnliches geschieht nach einer jeder Revision der Vertragspreise, wenn diese an die Spotpreise angeglichen werden (Kurvendiagramm 2).
Durch die Senkung der Lagerungskosten für Saisonvorräte, durch Buchung flexibler Kapazitäten und durch breitere Möglichkeiten für Arbitragegeschäfte sparen die Kunden der Gazprom nach den Ergebnissen unseres Modells im Durchschnitt mindestens 36 US-Dollar pro tausend Kubikmeter im Vergleich zu den Nutzern des unflexiblen Vertrages. Es sei bemerkt, dass es keine einheitliche allgemein angenommene Methodologie für die Einschätzung der Preisflexibilität gibt, und die europäischen Käufer sind geneigt, in Verhandlungen ihren Wert zu unterschätzen, ohne dabei allerdings den Wunsch zu äußern, auf diese Flexibilität zu verzichten. Aber wie die Diskussionen über die quantitative Einschätzung der Sicherheit und der Flexibilität auch enden, senken die Marktmechanismen selbständig und unabhängig von den Meinungen der Diskussionsteilnehmer den Gaspreis auf den Hubs im Vergleich zum vertragsgebundenen Gas um die Höhe der benannten Prämie.
Der zweite Grund für niedrigere Preise ist das strukturelle, nur für die Hubs selbst typische Überangebot. Wie es bereits bemerkt wurde, geben die erdölproduktgebundenen Preise der langfristigen Verträge das Gesamtniveau der Preise auf den Handelsplattformen vor. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Spotpreise von denen in diese oder jene Seite nicht abweichen können, was durch das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage auf diesen Handelplattformen bedingt wird. Der Überhang der Spotpreise im Vergleich zu den durchschnittlichen Vertragspreisen dauert nur einige Tage und wird durch Extremsituationen (anormale Kälte, Unfälle) verursacht, während die meiste Zeit die Preise auf den Hubs unter dem Niveau der Vertragspreise liegen. Die Variationsbreite dieser Abweichungen geht häufig über den Rahmen der Prämie für die Versorgungssicherheit und –flexibilität hinaus. Nutzen wir das Kurvendiagramm der Forschungsfirma PIRA, um diese systematische Abweichung zu veranschaulichen (Kurvendiagramm 3).
Die Tatsache, dass die Preise der Handelsplattformen nur für eine kurze Zeit die Vertragspreise übertreffen, ist dadurch zu erklären, dass die Partner der Gazprom im Rahmen der langfristigen Verträge mit ihrem Recht, Mengen zu bestimmen, blitzschnell auf die Möglichkeit reagieren, an Arbitragegeschäften zu verdienen. Sie steigern die Abnahmemengen des preiswerteren vertragsgebundenen Gases und verkaufen es weiter auf liquiden Hubs, deren Preise im Endeffekt schnell ins Gleichgewicht kommen.
Die Situation des strukturellen Überangebots entsteht wegen der Dominanz der Verträge auf dem europäischen Gasmarkt (mit dem Gasüberfluss auf dem Markt nicht zu verwechseln!). Die Dominanz der Verträge bedeutet, dass die gesamten festen Verpflichtungen der Lieferanten im Rahmen der langfristigen Verträge die realen Gasverbrauchsmengen bedeutend übertreffen.
Die Situation des strukturellen Überangebots entsteht wegen der Dominanz der Verträge auf dem europäischen Gasmarkt (mit dem Gasüberfluss auf dem Markt nicht zu verwechseln!). Die Dominanz der Verträge bedeutet, dass die gesamten festen Verpflichtungen der Lieferanten im Rahmen der langfristigen Verträge die realen Gasverbrauchsmengen bedeutend übertreffen. Durch die Entwicklung von liquiden Hubs haben die Grossabnehmer einen Absatzkanal für praktisch jegliche Gasmengen im Rahmen der Terminkurve für einige Jahre erhalten, darunter auch für den Vertrieb von Überschüssen, die die durch keine reale Nachfrage untermauert sind. Von dieser Möglichkeit machen sie aktiv Gebrauch, um die Positionen zu hedgen, die Vertragsverpflichtungen „take or pay“ gegenüber den Lieferanten zu erfüllen und Geldmittel vor dem Eingang von Zahlungen ihrer Kunden für das Gas zu erhalten, oft auch ohne Verträge mit diesen. Wäre auf dem Markt ein Käufer erschienen, der bereit gewesen wäre, das russische Gas nach einem Vertrag für das Jahr 2035 zu kaufen, so wäre es möglich gewesen, dieses Gas bereits jetzt zu verkaufen.
Nach der Information einiger Partner der Gazprom, wird das russische Gas (tatsächlich sind es feste Lieferverpflichtungen der Gazprom) drei oder vier Mal weiterverkauft, bevor es an den Kunden gelangt. Den Partnern der Gazprom fehlt die Motivation, die Spotpreise auf dem mit den Vertragspreisen vergleichbaren Niveau zu erhalten, weil der entgangene Gewinn im Rahmen dieses Vertriebes im Endeffekt durch retrospektive Zahlungen der Lieferanten gedeckt wird. Vor der Schaffung liquider Hubs hätte die Situation mit dem Gasüberfluss nicht entstehen können. Die Firmen hatten keine andere Möglichkeit, das überflüssige Gas loszuwerden, als dieses abzufackeln. Die Partner der Gazprom kauften genau so viel Gas, wie viel ihre Kunden (Endverbraucher) tatsächlich brauchten oder wie viel für die Schaffung von Saisonvorräten notwendig war. Wenn beim Partner Verpflichtungen nach dem Prinzip „take or pay“ entstanden, dann wurden die nicht abgenommenen vertragsmäßigen Gasmengen nach der entsprechenden teilweisen Vorauszahlung auf die nächste Periode übertragen (make-up-gas).
Gasimporteure, die vor vielen Monaten das Gas für die erste Hälfte des Jahres 2014 auf der Grundlage ihrer Einschätzungen der Saisonnachfrage verkauften, hätten nicht vermuten können, das der Winter anomal warm sein wird und der Bedarf an Gas um 56 Milliarden Kubikmeter (um 19 Prozent) im Vergleich zur ersten Jahreshälfte 2013 zurückgehen wird. Demzufolge sind bei den Gashändlern auf den Hubs, die lange Positionen besaßen, nicht abgenommene Gasmengen übrig geblieben, die fingen an, auf Preise Druck auszuüben und diese auf das Niveau unter 250 US-Dollar pro tausend Kubikmeter brachten.
Es besteht die Meinung, dass für den Preisabsturz auf den Handelsplattformen voll und ausschließlich Preisdrücker verantwortlich sind. Händler können tatsächlich durch ihre Aktivität der Preisentwicklung zusätzlichen Impuls verleihen. Sie haben aber dabei mit einem äußerst komplizierten und unvorhersagbaren Gegenstand für Spekulationen zu tun, dessen Änderungen häufig den traditionellen Vorstellungen über die Preisentwicklung nicht entsprechen. Gemäß dem von uns angeführten Vergleich, lagen die tatsächlichen Preise in den Wintermonaten von 2008 bis 2013 an 451 von 640 Tagen (72 Prozent) unter den durchschnittlichen Terminpreisen für das Wintergas. Das bedeutet, dass die Händler immer den gleichen typischen Fehler machten: ihre Erwartungen in Bezug auf die Winterpreise übertrafen stabil die Realität. Wenn die Verkäufer das Gas zum Terminpreis vor der Schließung der Winterterminperiode verkauften, waren sie in einer vorteilhafteren Lage, als ihre Käufer auf den Hubs. Nach dem Verkauf zu höheren Preisen konnten die Verkäufer die für ihre Kunden notwendigen Mengen zu niedrigeren Preisen beziehen. Die Einkommen der Partner der Gazprom von solchen Arbitragegeschäften werden bei Preisrevisionen nicht berücksichtigt, weil sie einen Ausgleich der Spanne zwischen dem tatsächlichen Vertragspreis und dem Spotpreis erfordern.
Es wäre falsch gewesen, das systematische Überangebot auf den Hubs als Indikator des Gasüberflusses auf dem europäischen Gasmarkt insgesamt zu betrachten: die Handelsplattformen widerspiegeln lediglich einen Teil des Gesamtverhältnissen von Angebot und Nachfrage. Außerhalb dieses Gesamtbildes bleiben die wesentlichsten Gasmengen, deren Preise auf der Basis anderer Prinzipien gestaltet werden. Der moderne Gasmarkt Europas spürt trotz des kurzfristigen Trends zur Nachfragesenkung ernsthafte Probleme mit der Gasversorgung, die momentan ausschließlich durch Lieferungen aus Russland gelöst werden. Europa verlor seit Anfang dieses Jahrhunderts nicht nur 80 Milliarden Kubikmeter von Gas aus der eigenen Gewinnung, sondern auch Lieferante von verflüssigtem Erdgas einbüßte, die ihre Absatzmengen auf die asiatischen Premiummärkte umorientierten (s. Kurvendiagramm 4).
Berechtigt ist auch die Frage, ob es sich lohnt, die Hybridmodell für die Preisbildung bei allen damit verbundenen Probleme zu erhalten: die zum Alltag gewordenen Preisrevisionen, die zur schleichenden Degradation von Exportpreisen und zur einseitigen Anreicherung der Rabatte führt? Diese Degradation ist bei der Stabilisierung oder Senkung der Erdölpreise besonders bemerkbar. Ist es nicht einfacher, Vorschläge der Partner anzunehmen und dem Preisdualismus durch die komplette Abstandnahme von der Indexierung auf der Basis der Erdölproduktpreise das Ende zu legen?
Die Folgen der Änderung des Preisbildungsmodells
Die Preise der europäischen Spotplattformen widerspiegeln also nicht das Gesamtverhältnis von Angebot und Nachfrage, deswegen ist es durchaus möglich, dass sich das ausbilanzierte Gaspreis in Europa von den Vorstellungen der Käufer und der Verkäufer stark unterscheiden wird. In der Situation, wenn der Preis ausschließlich durch Angebot und Nachfrage definiert wird, wird der Plafond für das Preiswachstum abgebaut werden. Im Hybridmodell wird dieser Plafond durch Preise für Erdölprodukte vorgegeben. Die Neigung des Unteren Preislimits zu demselben Erdölproduktpreis, die dem Markt eine allgemeine Stabilität verlieh, wird auch verschwinden. Der freie Preis für Erdgas, das häufig als Nebenprodukt bei der Erdölförderung entsteht, kann auch negativ ausfallen.
Die Preisinstabilität ist ein eindeutiger Nachteil der Spotpreisbildung. Die erdölgebundene Indexierung sichert vorhersagbare Preise, was die Risiken der langfristigen Investitionen in den Lagestättenabbau und in die Schaffung der Gastransportinfrastruktur reduziert. Das gibt die Möglichkeit, Projektfinanzierung auch in den Fällen zu beschaffen, wenn Investitionshorizonte 30 bis 40 Jahre betragen.
Die Preisbildung auf der Grundlage von Angebot und Nachfrage wird vor der Preisdegradation nicht retten. Unter den Bedingungen der Vertragsdominanz auf dem europäischen Gasmarkt, der Erhaltung von flexiblen Verträgen mit dem Nominierungsrecht beim Käufer und der Trennung von vertragsgebundenen Mengen, die auf dem Terminmarkt verkauft werden, von der realen Nachfrage, wird diese Degradation fortsetzen, aber bereits mit beschleunigtem Tempo. Dafür werden weder ein kompliziertes Preisrevisionsverfahren noch lange Arbitrageprozesse notwendig sein.
In traditionellen Verträgen mit der Indexierung auf der Basis der Erdölproduktpreise sind die Risiken der Vertragsparteien ausbilanziert. So teilten der Käufern und der Verkäufer Preis- und Mengenrisiken, und die Verträge beinhalteten Garantien für Angebot und Nachfrage. Im bestehenden Hybridsystem der Preisbildung werden die Verpflichtungen des Käufers immer verschwommener. Im Falle der Bindung an die Gasindizes verschwinden sie einfach und alle Risiken werden auf den Exporteur übertragen, der die Verpflichtung beibehält, das Gas unter jeglichen Bedingungen zu liefern. Dabei verliert die Verpflichtung „take or pay“, die das „wertvollste“ Bilanzierungselement in der Vertragsstruktur von dem Standpunkt des Verkäufers darstellt, den ökonomischen Sinn, weil der Käufer jegliche Mengen des vertragsgebundenen Gases auf dem Hub ohne eigene Verluste abgeben kann, wodurch er allerdings eine weitre Spirale der Preisdegradation provoziert.
Die Logik der Preisbildung auf der Grundlage von Angebot und Nachfrage sieht vor, dass die Marktteilnehmer die anzubietenden und nachzufragenden Mengen frei steuern können. Es sei bemerkt, dass dieses liberale Prinzip in der Gasbranche oft in Widerspruch mit der Notwendigkeit kommt, einen ununterbrochenen Energieträgerstrom für die Versorgung von strategischen lebenswichtigen Tätigkeitsbereichen sicherstellen zu können.
Die Preiserosion kann unter den neuen Bedingungen der Preisbildung nur durch die grundlegende Neuformatierung der Preise in Verträge mit nicht festen Verpflichtungen nach dem Muster der Verträge über die Lieferung vom verflüssigten Erdgas gestoppt werden. So beinhalten alle langfristigen Lieferungen vom verflüssigten Erdgas nach Europa mit Anbindung an die Preise der Hubs das Recht des Lieferanten, Kapazitäten auf Märkte mit höherem Preis umzulenken. Feste Lieferverpflichtungen erstrecken sich in der Regel nur auf einen geringen Anteil von vertragsmäßigen Gasmengen, zum Beispiel, auf das Wintergas. Solche Vereinbarungen mit unseren Partnern über das Pipelinegas zu treffen ist schwierig. In der Realität wird es nicht um die Umlenkung von Kapazitäten gehen, sondern um die Einstellung von Lieferungen, wenn der Lieferant mit dem Preis nicht zufrieden ist. Aber auch im Falle des Erfolges gibt diese Vereinbarung kleine Garantie, dass die Beziehungen sich harmonisieren lassen. Der Übergang zu Spotpreisen beinhaltet zusätzliche Risiken für die OAO Gazprom, da in diesem Falle diese voraussichtlich zum Verfolgungsobjekt der Kartellbehörden der EU werden wird. Dazu trägt der fehlende einheitliche Preis für Erdgas bei, der, wie im Falle der Erdölpreise, mit seinem Ansehen den Produzenten gegen willkürliche Auslegungen durch den Käufer in Bezug auf das angeblich gerechtfertigte Preisniveau schützen könnte. Nach der Meinung europäischer Politiker, darf der „gerechte“ Gaspreis den heutigen Gaspreis in den USA nicht übertreffen, was für Europa gleiche Wettbewerbsvorteile sichern könnte.
Besteht der geopolitische „Auftrag“ seitens der europäischen Eliten, so werden jegliche Aktivitäten der Gazprom Gruppe zum Schutz eigener Wirtschaftinteressen als Versuche des dominierenden Lieferanten betrachtet, Preise zu manipulieren. Die Handlugen der Kartellbehörden der EU sind in diesem Falle prognostizierbar: es werden milliardenschwere Strafsanktionen verhängt, der Zugang der unabhängigen Produzenten zum Export des russischen Pipelinegases verlangt und die vollständige Vereinheitlichung der Preise gefordert.
Die Verträge mit der Erdölindexierung sind weniger anfechtbar für Kartellbehörden. Der Preis des vertragsgebundenen Gases ist in diesem Falle nicht von Angebot und Nachfrage, sondern von der mit dem Partner abgestimmten Formel abhängig. Und die Preise der Erdölprodukte, die zu dieser Formel gehören, kann keiner der großen Erdgaslieferanten beeinflussen. Das bedeutet nicht, dass die Europäische Kommission auf die Versuche verzichtet, der Gazprom die Verletzung der Kartellgesetzgebung vorzuwerfen. Dafür muss aber die Kommission etwas fast unmögliches beweisen, und nämlich einen besonderen Vorsatz des dominierenden Lieferanten beim Abschluss des Vertrages mit der standardmäßigen Erdölproduktformel.
Schlussfolgerungen
Seit den Sowjetzeiten wurde den Exporteuren des russischen Gases die Aufgabe gestellt, die Absatzmengen dieses Energieträgers im Rahmen der mit den nationalen Gasgesellschaften abgeschlossenen langfristigen Verträge zu steigern. Die Verpflichtungen „take or pay“ als ein Bestandteil dieser Verträge stellten feste Garantien dar, dass die Europäer dieses Gas bezahlen, auch wenn die Nachfrage danach in einzelnen Jahren nicht ausrechend sein wird. Ein wichtiges Instrument des Wettbewerbskampfes um den europäischen Verbraucher war die Lieferungsflexibilität, die dem Käufer zahlreiche zusätzliche Vorteile einräumte. Es muss anerkannt werden, dass die traditionelle Strategie der Steigerung von langfristigen Verpflichtungen in Verträgen mit den ehemaligen „nationalen Champions“, viele von denen wegen des Wettbewerbs ihre Kunden verloren, unter den Bedingungen der Existenz von liquiden Hubs nicht nur zum Endergebnis, d.h. zur Steigerung des Exporterlöses, nichts beiträgt, sondern auch sogar kontraproduktiv wirken kann. Heute sind die liquiden Handelsplattformen im Stande, jegliche zusätzliche Gasmengen zu übernehmen, und das auch noch mehrere Monate vor dem Beginn deren realen Lieferung an die Endverbraucher. Der Zuwachs der Mengen des russischen Gases, die von Käufern gesteuert werden, verstärkt den Druck auf das Preisniveau der Handelsplattformen und trägt zu ihrer Senkung bei.
Die tatsächliche Trennung zwischen den Lieferoptionen und der realen Nachfrage ist bereits zustande gekommen. Durch die Heranziehung der mit der realen nachfrage nicht verbundenen Mengen senkt der Markt den Spotgaspreis im Endeffekt. Und dieser neue Preis wird zur Orientierung bei der Revision der Erdölproduktpreise. Die Dominanz der Verträge auf dem Markt unter den Bedingungen der bestehenden Probleme mit dem physischen Gasversorgungsgrad bewegt unsere Partner wenig. Viele von denen wandeln sich immer mehr in reine Händler um.
Die Vertragsdominanz muss auf dem Markt ausgerottet werden. Die Rechte der Käufer, flexible Mengen zu nominieren, müssen durch die Einführung der 100prozentigen Verpflichtung „take or pay“ in Bezug auf die Vertragsverpflichtungen eingeschränkt werden, die ihrerseits auf das Niveau der aufgrund ihrer Kundschaft zu definierenden Basisauslastung gebracht werden müssen.
Also, auch wenn unseren Partnern ihre Sicht auf den modernen europäischen Gasmarkt glaubwürdig erscheint, unterscheidet sich diese stark von der „Hybridrealität“, mit der die Gazprom zu tun hat. Sie erklärt viele Paradoxe dieses spezifischen Marktes, solche wie das Gasdefizit bei gleichzeitigem Gasüberfluss auf den Hubs, die „richtig marktwirtschaftlichen Spotpreise“ die nach der Überprüfung sich als herabgesetzte Variante der Erdölproduktpreise erweisen, die Gestaltung der Gewinne oder Verluste unserer Partner auf der Grundlage des Unterschiedes zwischen den Termin- und den realen Spotpreisen und nicht zwischen den Vertrags- uns Spotpreisen, wo den negativen Saldo der Lieferant zu decken hat.
Als dem oben Geschilderten folgt keinesfalls, dass es sinnvoll wäre, auf das Hybridsystem der Preisbildung zu verzichten. Die von den Partnern vorzuschlagende Alternative – langfristige Verträge mit dem Spotpreis – ist allerdings eine noch weniger attraktive Variante, die viele zusätzliche Risiken beinhaltet.
Die Defekte des bestehenden Hybridmodels des Marktes können beseitigt werden. Vor allem muss die Vertragsdominanz auf dem Markt ausgerottet werden. Die Rechte der Käufer, flexible Mengen zu nominieren, müssen durch die Einführung 100prozentiger Verpflichtungen „take or pay“ für die Vertragsbedingungen eingeschränkt werden, die ihrerseits auf das Niveau der durch ihre Kundschaft zu definierende „Basisauslastung“ gebracht werden müssen. Wenn die Preise der Handelsplattformen den Branchenstandard darstellen, denn müssen diese Plattformen und nicht die Verträge zur Quelle der bilanzierenden Mengen werden, was das Angebot auf den Hubs mit der realen Nachfrage in Entsprechung bringen könnte und die Erosion der Gaspreise im Verhältnis zu Erdölpreisen stoppen könnte (s. Kurvendiagramm 5).